GERSTENBERGS ENTDECKUNGEN
Notizen aus längst vergangener Zeit

Weitgehend unbeachtet lagerte im Archiv des Heimatmuseums einer schwäbischen Kleinstadt das nachfolgend abgedruckte Dokument, das ich hiermit einer breiteren und hoffentlich interessierten Öffentlichkeit vorstellen möchte. Es handelt sich um einen Forschungsbericht des damals in jener Kleinstadt als Hauslehrer angestellten Poeten und Privatgelehrten Johann Anton Gerstenberg (1799 - 1874), der, behutsam der gegenwärtigen Rechtschreibung angepaßt, hier wiedergegeben wird.






“Es begab sich am Nachmittag des Neujahrstages 1824, als ich, auf einem langen und einsamen Fussmarsche einen kleinen verborgenen Pfad folgend, der von der Höhe durch eine Schlucht hinab ins Tal führte, zu einem alten überwucherten Steinbruch gelangte, an dessen Rande zwei, drei Höhlungen sich dunkel öffneten.

Vorsichtig tastete ich mich in die erste Höhle hinein, meine Augen erst langsam an das schwindende Tageslich gewöhnend - und dennoch stolperte ich jäh über zwei, drei brotlaibgroße Steine, die meine Aufmerksamkeit sofort auf sich zogen, nachdem sie nicht, wie im Kalk ringsumher, kantig und gebrochen, sondern eigentümlich rund und glänzend sich darboten.

Ich schleppte drei der schweren, weichen Gesteinsbrocken an das Tageslicht, reinigte sie hastig von Verunreinigungen und krustiger Erde, und erkannte schnell und mit großer Erregung, daß es sich bei den Steinbrocken um meisterhaft gearbeitete Skulpturen handelte: aus weichem Speckstein herausgemeißelte Torsi wunderbar dicker Frauen. Meine Hand glitt vorsichtig über die vollen und runden Gestalten, eine schöner wie die anderen.






Hastig zurückkehrend in die kleine Höhle fand ich noch einen vierten, seitlich gelegenen Stein, ebenso weich und wunderbar wie die anderen. Von meinem Fund über die Maßen bewegt, stellte ich die vier Statuen vor mir auf den Boden und begann - trotz eisiger Neujahrskälte - ihre Umrisse mit klammen Fingern in meinem Skizzenblock, den ich, um Landschaften festzuhalten, samt einem Kohlestift immer mit mir führte, festzuhalten. Zum Glück, zum unglaublichen Glücke, wie sich später herausstellen sollte.

Und während ich malte und staunte und sah, merkte ich Schauer durch meinen ganzen Körper gehen, spürte, dass jene Fülle, jene Weiblichkeit, jene Wärme, die vom doch so kalten Stein ausging, mich tief in der Seele affizierte, in mir etwas zum Klingen brachte von Sehnsucht und Liebe. Kurzum: Verzaubert von den vier Gestalten, vertieft in meine Arbeit, nahm ich erst wahr, wie die Zeit verstrichen, als die Glocke der alten Stiftskirche im Tal zum Abendgottesdienst läutete.

Längst war es dämmrig um micht her, gründlich versteckte ich die vier etwa ellenlangen und gut 20pfündigen Statuen in einem dichten Gebüsch gleich beim Eingang des Steinbruchs und rannte stracks den Berg hinab zur Stadt, die ich erreichte, als schon gänzlich die Dunkelheit hereingebrochen.






Die Wirtin empfing mich freundlich wie so oft; der junge Herr sei ja heute lange unterwegs gewesen. Und als ich in der Türe hinter ihr ihre Tochter neugierig hervorlugen sah, ein etwa 16jähriges, aber überaus rundes, dickes freundliches Mädchen, das meine Blicke schon immer gefangengenommen hatte, wußte ich mit einem Schlag, was mit mir geschehen: Eben jene runden, vollen, üppigen, weiblichen Formen hatte mich tief verzaubert.

Noch in derselben Nacht nahm ich meine Skizzen zur Hand und arbeitete sie aus, ergänzte, schattierte, versuchte den Bann der Steine einzufangen. Kaum konnte ich schlafen in jener Nacht, in der mir die Augen aufgingen, so fasziniert, so erregt war ich.

Tags darauf, bald nach dem Morgenläuten, machte ich mich erneut auf den Weg zum alten Steinbruch, ich nahm einen großen mit Heu gefüllten alten Sack mit und wollte meine Skulpturen bergen. Doch so sehr ich sie auch suchte, so sehr ich mit die Hände in den dichten dornigen Gesträuchen des Steinbruchs zerkratzte und zerschnitt - ich fand nichts. Keine Spur. Auch die Höhle war leer. Traurig ging ich nach Hause. Traurig betrachtete ich meine Skizzen. Wo waren sie hingekommen, die runden Frauen? Welche Bewandtnis hatte es mit ihnen...”






Und hier bricht den Bericht fürs erste ab. Wird Gerstenberg die Skulpturen wiederfinden? Wie wird es ihm mit seinen neuentdeckten Gefühlen weiter gehen? Und welche Rolle spielt die geheimnisvolle Wirtstochter? Fortsetzung folgt.